Artikel vom 04.02.2022
Fragen zur Debatte um eine Impfpflicht
Impfen hilft – das ist richtig. Die ganz überwiegende Zahl unserer Bewohner, Klienten, Betreuten und auch der Mitarbeitenden hat sich für eine Corona-Impfung entschieden. Die meisten haben sogar schon die 3. Impfung als Auffrischung oder „Boosterung“ erhalten. In unseren Einrichtungen müssen wir glücklicherweise in diesem Winter nur in ganz wenigen Ausnahmefällen schwere Erkrankungen feststellen. Der große Unterschied heute zum Pandemieverlauf im Winter 2020/2021 und den damaligen Krankheitsverläufen mit vielen Todesfällen ist allein der ausreichende Impfschutz.
Wenn das alles so klar ist, worüber dann noch reden: Alle lassen sich impfen und wir haben die Pandemie überwunden. Und wer nicht will, der muss eben dazu gezwungen werden?
Ein paar Fragen hätten wir da noch:
In unseren Seniorenzentren und Sozialstationen, aber auch in unseren Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, haben sich durchschnittlich mehr als 98 Prozent der Bewohner und Klienten vollständig impfen lassen und sind bis auf wenige Ausnahmen auch geboostert. In diesen Einrichtungen liegt die Impfquote bei den Mitarbeitenden bei knapp 90 Prozent. Durch die hohe Impfbereitschaft können wir zwar keine Infektionen verhindern.
Aber wir können ebenso wie die Angehörigen, wie die Bewohner und Klienten und wie unsere Mitarbeitenden auch, zuversichtlich und beruhigter in die Zukunft schauen, weil die Menschen (gerade die in den besonders anfälligen und verwundbaren, den sogenannten vulnerablen Gruppen) einfach deutlich besser vor schweren Krankheitssymptomen geschützt sind. Und im Fall der Fälle können wir gewährleisten, dass ungeimpfte Bewohner oder Klienten nur durch vollständig geimpfte und geboosterte Mitarbeitende betreut werden.
Welche entscheidenden Verbesserungen an dieser Lage verspricht man sich von der Einführung einer Impfpflicht?
„Andere Länder, andere Sitten.“ - so ein weit verbreitetes Sprichwort. Das gilt auch für den Umgang mit der Pandemie. Der berühmte Blick über den eigenen Tellerrand bietet leider kein einheitliches Bild. Gibt es die Impfpflicht in verschiedenen Ausprägungen schon in manchen Ländern (z.B. Griechenland, Italien, Österreich), überlegen viele andere wie auch Deutschland, ob man diese einführt. Manche Länder wie z.B. Großbritannien erwägen sogar, die bereits im Gesundheitssektor eingeführte Impfpflicht wieder abzuschaffen. Und just in diesen Tagen fallen in einigen Ländern viele oder gar alle coronabedingten Beschränkungen des öffentlichen Lebens ersatzlos weg, so z.B. in den Niederlanden, Großbritannien oder Dänemark. Zum Vergleich: In Dänemark sind heute 81,4 Prozent der Menschen doppelt geimpft und 61,5 Prozent geboostert. In Deutschland sind es 74,2 Prozent bzw. 53,6 Prozent (Robert-Koch-Institut (RKI), Stand: 03. Feb. 2022). Rechtfertigen 7 bis 8 Prozentpunkte Unterschied in den Impfquoten zwischen den Ländern, dass in Dänemark einerseits alles fallen gelassen wird und in Deutschland andererseits alles beibehalten wird und man im Zuge der Impfpflicht sogar noch über Verschärfungen nachdenkt? Am Ende findet man nur durch die Auseinandersetzung und das Abwägen von Für und Wider eine für alle gangbare Lösung.
Im vergangenen Jahr hat sich zunächst die Delta-Variante und dann später die im Vergleich glücklicherweise etwas harmlosere Omikron-Variante des Virus entwickelt. Vorbeugend gibt es gute Impfstoffe, die nicht die Infektion mit dem Virus selbst, weitestgehend aber schwere Krankheitsverläufe verhindern. Darüber sind wir froh, fragen uns aber natürlich auch, was im Herbst/Winter 2022/2023 zu erwarten ist. Hilft eine höhere Impfquote gegen eine heute noch nicht bekannte Virus-Variante und noch viel wichtiger:
Helfen unsere heutigen Impfstoffe dagegen und falls nicht, wie sollen wir dann mit einer Impfpflicht umgehen?
Machen wir uns nichts vor: Wenn es eine Impfpflicht gibt, wird es auf der anderen Seite immer noch Menschen geben, die eine Impfung ablehnen oder verweigern. Da die Impfung selbst nicht mittels Zwang gegen den Willen der Menschen erfolgen kann, wird es Sanktionen geben.
Wie muss man sich diese vorstellen?
- Dürfen Menschen dann nicht mehr arbeiten gehen, werden also mit einem den gesamten Arbeitsmarkt umfassenden Berufsverbot belegt oder gibt es noch Branchen, in denen Sie tätig werden können?
- Erhalten diese Menschen dann Arbeitslosengeld bzw. Hartz-4?
- Wird es Bußgelder geben und wenn ja, können sich wohlhabendere Impfverweigerer von der Impfpflicht „freikaufen“?
- Werden bei Rentnern deren Rente gekürzt, wenn sie sich nicht impfen lassen, wie es momentan z.B. in Griechenland vorgesehen ist?
- Und was passiert mit den vielen Kindern in den Familien von Impfgegnern?
Viele Familien werden in Armut fallen, weil Erwachsene nicht mehr arbeiten gehen dürfen. - Steigt Kinderarmut in Deutschland dann noch weiter an?
- Dürfen Kinder und Jugendliche mit ihren ungeimpften Eltern noch am öffentlichen Leben teilhaben? Können ungeimpfte junge Erwachsene eine Berufsausbildung machen oder ein Studium ergreifen?
Im Gesundheitssystem knirscht und knarrt es an allen Ecken und Enden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) berichtet über 22.000 unbesetzte Stellen in den Krankenhäusern, allein 8.000 davon entfallen auf die Intensivstationen. Um eine freiwerdende Stelle dort neu zu besetzen, braucht es mittlerweile im Schnitt 21 Wochen. Dann verwundert es auch nicht, dass laut DIVI-Intensivregister des RKI von August 2020 bis Januar 2022 fast 10.000 Intensivbetten abgebaut wurden bzw. nicht mehr zur Versorgung Schwererkrankter zur Verfügung stehen. Im Bereich der Pflege und Eingliederungshilfe sieht die Welt nicht besser aus.
Das neuartige Virus trifft also auf ein schrumpfendes Gesundheitssystem. Das ist nicht allein Corona geschuldet, sondern eine langjährige Entwicklung nicht zuletzt infolge von Privatisierung und angeblicher Effizienzsteigerung in der Branche. Corona verschärft diese Entwicklung noch einmal kräftig. Und dann sagen wir ungeimpften Menschen, die ebenso wie ihre geimpften Kollegen seit fast zwei Jahren unter hohem persönlichen Einsatz weit über ihre Belastungsgrenze hinaus und unter Einhaltung sämtlicher Hygienevorschriften die Versorgung der Kranken sowie der Pflege- und Betreuungsbedürftigen sicherstellen:
Ab 16.03.2022 brauchen wir euch in diesem System nicht mehr, wenn ihr euch nicht impfen lasst? Wenn landauf landab Waldbrände wüten, sagen wir allen Feuerwehrleuten, die heimlich rauchen, ihr dürft beim Löschen nicht mitmachen?
Welche konkreten Maßnahmen werden ergriffen, um wieder mehr Menschen für Gesundheitsberufe zu begeistern, vielleicht auch aus dem System in der Vergangenheit abgewanderte Menschen wieder zurück zu gewinnen, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen und alle angemessen zu entlohnen?
Unsere Fragen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie müssen aber sicher beantwortet und die Folgen einer Impfpflicht für die Menschen, das Gesundheitssystem und unsere Gemeinschaft insgesamt gut abgewogen werden. Wo Folgen nicht sicher eingeschätzt oder Ausweichmöglichkeiten für Betroffene nicht aufgezeigt werden, sollte auf eine Impfpflicht im Zweifel lieber verzichtet werden. Ein schwieriger Aushandlungsprozess, der sorgfältig und mit der notwendigen Zeit geführt werden muss. Deshalb unser Appell:
- Den Nutzen einer allgemeinen Impfpflicht überdenken und die Folgen im Blick behalten.
- Die Impfpflicht im Gesundheitswesen bis zur Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht aussetzen.
- Alle vorhandenen staatlichen Ressourcen für eine dauerhafte Stärkung des Gesundheitssystems einsetzen.
Abschließend noch ein Wort an unsere Mitarbeitenden:
Wir danken allen Mitarbeitenden, geimpft oder ungeimpft, für ihr Engagement und den Enthusiasmus, mit dem sie die täglichen Herausforderungen bewältigen und die Versorgung unserer Bewohner/Klienten sicherstellen.
Den geimpften Mitarbeitern danken wir zusätzlich für ihre Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Sie brauchen ab hier nicht mehr weiterlesen.
An alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich noch nicht zu einer Impfung entschließen konnten:
Ja, Sie können auch nach dem 15.03.2022 bei uns weiterarbeiten. Auch wenn die Impfpflicht offiziell nicht ausgesetzt werden sollte, entscheiden erst die Gesundheitsämter in jedem Einzelfall, ob ein Beschäftigungs- bzw. Betretungsverbot ausgesprochen wird.
Ungeachtet dieser Sachlage dennoch unsere Bitte:
Überdenken Sie Ihre Entscheidung. Wir akzeptieren diese, glauben aber aus den Erfahrungen und Erkenntnissen unserer täglichen Arbeit, dass in der Abwägung mehr Gründe für als gegen eine Impfung sprechen. Natürlich können sich allein aus medizinischen Gründen nicht 100 Prozent aller Menschen impfen lassen. Manche lehnen Impfungen jedweder Art grundsätzlich ab. Einige haben Angst vor Spritzen. Vielen Menschen ist die Erprobungs- bzw. Entwicklungszeit der eingesetzten Impfstoffe zu kurz. Und alle Ungeimpften fühlen sich sicher öffentlich diskreditiert und unter Druck gesetzt. Wir können Ihnen versichern, dass alle engagierten AWO-Mitarbeitenden uns willkommen sind, unabhängig vom Impfstatus. Wir wissen, was Sie alle leisten und dass eine Entscheidung für oder gegen eine Impfung keine einfache Entscheidung ist. Familie, Kollegen und vor allem die Betreuten – an vielen Stellen sind Sie gefordert, erfahren Zustimmung oder Ablehnung. Wenn wir Sie bei der Entscheidungsfindung unterstützen können, Sie das Gefühl haben, ein persönliches Gespräch mit uns könnte helfen, zögern Sie nicht und sprechen uns an. Wir, der Vorstand des AWO Bezirksverbandes Potsdam e.V., finden in jedem Fall Zeit und einen individuellen Termin.