Wohnungslosigkeit hat viele Ursachen – die gelöst werden müssen
„In der eigenen Wohnung ist es immer besser“
Wohnungslosigkeit hat viele Ursachen – die gelöst werden müssen
Manchmal sind es falsche Entscheidungen, manchmal Schicksalsschläge, die einen Menschen aus der Bahn werfen. Viele schaffen es, damit fertig zu werden, die Enttäuschungen und die Trauer zu verarbeiten. Manchen gelingt es nie, es kommen weitere Probleme hinzu. Der Job geht verloren, das soziale Netzwerk, Alkohol und Drogen und dann wird auch noch die Wohnung gekündigt. Wohnungslosigkeit ist ein großes Problem in vielen Städten und Gemeinden - auch in Potsdam.
Hier betreibt der AWO Bezirksverband Potsdam e.V. mehrere Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe, vom Obdachlosenheim und Notaufnahme über die „Jungen Wilden“ und das AWO Familienhaus bis hin zu Betreutem Wohnen und der Ambulanten Wohnhilfe.
Nikolaus Reibitz bewohnt seit etwa einem Jahr ein kleines Zimmer am Lerchensteig. Der Raum ist abgedunkelt, Reibitz sitzt vor einem Computer, auf einem kleinen Sideboard steht eine Giraffe neben einem Kamel, überall sind Medaillen und Plaketten zu sehen. Lange Jahre war er im Personenschutz in Krisengebieten im Ausland tätig, vor allem in Afrika. „Es ist schon ganz nett hier. Aber in einer eigenen Wohnung ist es immer besser“. Als es zurück nach Deutschland ging, war es wie in einer anderen Welt. „Ich war gar nicht in der Lage, mit Zivilisten zu sprechen“, sagt Reibitz. Geld war eigentlich genug da. „Ich gab es aber auch aus“. Er machte sich selbständig und bezog eine Wohnung in Potsdam. Dann begannen die Probleme: Streitigkeiten mit dem Vermieter wegen Mängeln in der Wohnung, die Partnerin starb, er selbst wurde krank, - und leidet bis heute an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) - konnte nicht mehr arbeiten und rutschte schnell in die Grundsicherung. Der Vermieter kündigte schließlich den Mietvertrag.
Eine ganz wichtige Phase ist die Zeit vor dem Verlust der Wohnung. Hier müssen staatliche finanzielle Hilfen und Unterstützung schnell und wirkungsvoll greifen. Oft sind aber die Möglichkeiten für Zuschüsse für eine angemessene Wohnung, das Wohngeld und andere Wohnungshilfen gar nicht bekannt. Wer keinen finanziellen Puffer mehr hat oder aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, seine Situation zu verbessern, schafft es auch nicht, Anträge zu stellen. Das soziale Netz muss wieder dichter sein, Hilfen kommuniziert werden. Ist die Wohnung erst mal weg, wird es in Zeiten angespannter Immobilienmärkte umso schwerer eine Wohnungslosigkeit oder gar die Obdachlosigkeit zu verhindern.
"Wir nehmen jeden bedingungslos auf"
„Jeder Klient, jeder Klientin ist freiwillig hier. Sie können jederzeit wieder gehen“, sagt David Weidling, Leiter des AWO Obdachlosenheims und der Notaufnahme in Potsdam. Im Schnitt bleiben die Klient*innen 2 bis 5 Jahre in der Einrichtung, manche deutlich länger. Das Obdachlosenheim ist seit Jahren ständig voll belegt. „Wir nehmen jeden sofort und bedingungslos auf“, so Weidling. Die Zusammenarbeit zwischen der Potsdamer Arbeiterwohlfahrt und der Stadt Potsdam läuft in diesem Bereich seit vielen Jahren stabil. Das ist aber nicht überall so. Städte und Gemeinden sind dazu verpflichtet, bei unfreiwilliger Obdachlosigkeit die Betroffenen zum Schutz ihrer Grund- und Menschenrechte unterzubringen. Jeder obdachlose Mensch hat einen Rechtsanspruch auf Unterbringung. Dieser kann auch vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden. Leider kommt es tatsächlich immer wieder vor, dass manche Kommunen nur sehr zögerlich oder nach eigenen Vorstellungen diese Pflichtaufgabe erfüllen. Die Grund- und Menschenrechte wohnungsloser Menschen bleiben dabei auf der Strecke, Verwaltungsvorschriften werden vorsätzlich missachtet und ignoriert.
Und auch die Art der Unterbringung und die Begleitung der Menschen ist unterschiedlich. Die Qualitätsstandards des AWO Bezirksverband Potsdam garantieren eine Öffnung des Obdachlosenheims rund um die Uhr an 7 Tagen in der Woche sowie grundsätzlich die Unterbringung in Einzelzimmern. „Vom ersten Tag an bieten wir uns zudem regelmäßig für Gespräche an. Die Beziehungsarbeit ist das A und O“, sagt Weidling. Auch die AWO Schuldnerberatung, die AWO Suchtberatung und weitere Hilfseinrichtungen seien regelmäßig im Haus, um zu beraten und bei der Lösung der Multifunktionslagen zu helfen. Das Angebot wird finanziert durch die Kommune Potsdam.
Unabhängig davon gibt es die „Jungen Wilden“, eine Einrichtung nur für junge wohnungslose Menschen. Laut Einrichtungsleiter Sascha Podubin kommen die Bewohner*innen zumeist direkt aus der Jugendhilfe. „Viele haben eine schlimme Vorgeschichte mit traumatischen Erlebnissen.“ Der Grund: Mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres wird bislang häufig vom Amt die Jugendhilfe beendet. Danach waren die jungen Erwachsenen sich selbst überlassen. „Viele schaffen das dann nicht“, so Podubin. Er hofft nun auf die neuen Regelungen im Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz), die flexiblere Übergänge ermöglichen sollen.
Das AWO Familienhaus für wohnungslose Familien richtet sich an Familien mit Kindern, die wohnungslos geworden sind. Auch hier sind alle Plätze ständig belegt. Vor allem für Kinder ist Wohnungslosigkeit eine lebenslang prägende Erfahrung, die es unbedingt zu vermeiden gilt.
Hinzu kommen betreute Wohnprojekte, die über die Eingliederungshilfe finanziert werden. Was fehlt, ist die nötige Flexibilität. Die Eingliederungshilfe müsste niedrigschwelliger sein. Derzeit können nur jene sie beantragen, die eine gute Aussicht haben, wieder ein eigenständiges Leben aufbauen zu können. Ausschlussgründe sind beispielsweise Drogenkonsum, Medikamente, Doppeldiagnosen und mehr. Um die Lücke zu füllen, hat die Potsdamer Arbeiterwohlfahrt auch das Angebot „Wohnen im Kiez“ geschaffen oder die Ambulante Wohnhilfe. Die Plätze stehen in erster Linie erwachsenen Potsdamer Bürger*innen zur Verfügung, die von einer seelischen Behinderung betroffen sind und an einem überdurchschnittlichen Maß psychotischer Basisstörungen, an einer Persönlichkeitsstörung oder an einer Kombination mehrerer psychischer Erkrankungen leiden. Hier wäre noch viel zu tun.
Ein Recht auf Wohnen
Immer wieder verlieren Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen ihre eigenen vier Wände, ihren sicheren Rückzugsort, ihr Zuhause. Jedes Jahr finden bundesweit zehntausende Zwangsräumungen statt. Ganze Familien werden auf die Straße gesetzt, ohne dass eine geeignete Ersatzwohnung durch die Kommune zur Verfügung gestellt wird - mit entsprechenden Folgen. Solche Erlebnisse sind für die Betroffenen und besonders für die Kinder eine existenzielle, traumatische Krise. Selbst wenn es ihnen gelingt, nach einer gewissen Zeit wieder Fuß zu fassen und mit Hilfe von anderen eine neue Wohnung zu finden, dauert es lange, bis diese Erfahrung verarbeitet ist. Die Wohnungsnotfallhilfe müsste sich daher an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und nicht an den Kosten.
Gibt es in Deutschland ein Recht auf Wohnen? Lässt es sich vor Gericht einklagen und durchsetzen? Leider müssen diese Fragen immer noch mit einem NEIN beantwortet werden. Zwar ist das Recht auf Wohnen ein Menschenrecht. Seine Grundlage findet sich im internationalen Recht in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), sowie in Artikel 16 der Europäischen Sozialcharta vom 16. Dezember 1966 und dem Artikel 31 der revidierten Europäischen Sozialcharta. Im Grundgesetz (GG) ist zwar der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung festgeschrieben. Ein ausdrücklicher Bezug aufs Wohnen an sich fehlt jedoch. Aktuell gibt es nur das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Demnach hat die Politik einen Regelungs- und Gestaltungsauftrag für ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, die sogenannte Daseinsvorsorge. Daraus entstehen immerhin prinzipiell einklagbare Ansprüche wie Zuschüsse für eine angemessene Wohnung, das Wohngeld und andere Wohnungshilfen. Wer sich frühzeitig Hilfe sucht, etwa bei der AWO Schuldnerberatung und der Ambulanten Wohnhilfe, kann den Verlust der eigenen Wohnung verhindern.
Der AWO Bezirksverband Potsdam fordert seit Jahren ein Ende der Wohnungslosigkeit in Deutschland. Sie darf nicht wie aktuell nur verwaltet, sondern muss verhindert werden. In unserem Programm „AWO 1 plus 9 – ein Ziel, neun Forderungen für eine soziale gerechte Gesellschaft“ fordern wir endlich ein Beheimatungskonzept für Obdachlose, die auf dauerhafte Betreuung angewiesen sind. Wir fordern aussagekräftige Statistiken über die tatsächliche Anzahl wohnungsloser Menschen, die Schaffung gut zu erreichender bedarfsgerechter Notunterkünfte, den unkomplizierten Zugang zu guter medizinischer Versorgung und mehr.
Und natürlich für jeden Menschen und jede Familie eine eigene bezahlbare Wohnung.