Offener Brief: Der mangelnden Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen im Potsdamer Stadtteil Am Schlaatz muss unverzüglich und entschieden entgegengewirkt werden
Mangelnde Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen
Offener Brief: Der mangelnden Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen im Potsdamer Stadtteil Am Schlaatz muss unverzüglich und entschieden entgegengewirkt werden
Sehr geehrter Oberbürgermeister Mike Schubert,
Sehr geehrte Stadtverordnete,
Potsdam – familienfreundliche Kommune? – Die Realität zeichnet ein anderes Bild: eine zunehmende Anzahl an Kindern und Jugendlichen ist hungrig und unzureichend über die Bildungsinstitutionen versorgt!
In Potsdam, einer reichen Stadt, die sich gern mit dem Attribut „familienfreundliche Kommune“ schmückt, sind Kinder und Jugendliche hungrig. Und genau diese Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien – besonders in Armutslagen – haben kaum eine Lobby und auch nicht die politischen Hebel, um Politik zum SCHNELLEN Umdenken und Handeln zu bewegen.
Deutlich sichtbar wird die zunehmende Ernährungsarmut von Kindern und Jugendlichen im Potsdamer Stadtteil Am Schlaatz. Hier zeigt sie sich massiv. Dies schließt jedoch ein, dass das Thema auch in anderen Stadtteilen akut ist und dessen Brisanz potsdamweit steigt.
Aber nun zum Stadtteil Am Schlaatz – am Beispiel der dortigen Weidenhof-Grundschule und der Gesamtschule Am Schilfhof:
Die Weidenhof-Grundschule besuchen 422 Kinder und an der Gesamtschule Am Schilfhof sind es 713 Jugendliche, die dort lernen und einen Großteil ihres Tages verbringen.
Zur Mittagszeit wird durch einen Caterer ein Mittagessen für die Schüler*innen angeboten. Doch die Anzahl derjenigen Kinder und Jugendlichen, die das Mittagsangebot nutzen, ist gering: an der Weidenhof-Grundschule nimmt nur gut die Hälfte der Kinder an der Mittagsversorgung teil. Besonders bei den älteren Kindern, die nicht in den Hort gehen, ist die Zahl der Mittag Essenden gering. An der Gesamtschule Am Schilfhof sind es nur etwa 1/10 der Jugendlichen, die eine Mittagsmahlzeit zu sich nehmen.
Die Nicht-Teilnahme der Kinder und Jugendlichen an der Mittagsversorgung ist angesichts der dafür geforderten Preise von 5,51 € pro Portion für die Grundschüler*innen und sogar 6,23 € für die Schüler*innen der weiterführenden Schule nicht verwunderlich: Welche Familie können sich diese Preise noch leisten?! Es ist nicht nachvollziehbar, dass die beiden Schulen Am Schlaatz die höchsten Mittagessenpreise in Potsdam haben. Zudem sind die baulichen Gegebenheiten der dortigen Schulmensen nicht darauf ausgerichtet, dass alle Kinder der Schule gut essen können. Doch die baulichen Situationen und Mängel dürfen kein Hindernisgrund sein, um die Essensversorgung für alle Kinder und Jugendlichen der Schulen zu gewährleisten.
Die beschriebene Situation ist nicht nur dramatisch – sondern auch gefährlich. Denn immer mehr Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen berichten von hungrigen Kindern. Ihre Anzahl hat sich in den letzten Monaten nochmals auffallend erhöht, nachdem diese Situation bereits seit der Corona-Pandemie deutlich wahrnehmbar war.
Die Sozialarbeiter*innen, die am Schlaatz im Freizeit– und Nachmittagsbereich tätig sind (Kinder- und Jugendclubs), bestätigen, dass vermehrt Kinder und Jugendliche bis in die Nachmittagsstunden nichts gegessen haben. Und hier beißt sich noch zusätzlich die Katze in den Schwanz, denn die Kinder- und Jugendclubs haben kein Budget für eine Essensversorgung. Hinzu kommt, dass die pädagogischen Sachkosten der Freizeiteinrichtungen seit mehr als 10 Jahren durch die Stadt im Budget nicht erhöht wurden, trotz aller Preissteigerungen. Die Sozialarbeiter*innen in den Kinder-, Jugend- und Familienclubs sehen sich dazu gezwungen, ihr eh schon geringes Budget dafür aufzuwenden, dem Hunger der Kinder und Jugendlichen Abhilfe zu schaffen. Denn ein*e Jugendsozialarbeiter*in kann nicht mit Jugendlichen arbeiten, die hungrig sind – dafür muss zu allererst der Hunger als Grundbedürfnis gestillt und damit die Voraussetzung für gesundes Aufwachsen geschaffen werden.
Und was passiert mit all den hungrigen Kindern und Jugendlichen, die bei keinem Kinder- oder Jugendclub angedockt sind?
Bei der Schulverpflegung hat sich die Stadt Potsdam schon vor Jahren verkalkuliert. Schon oft haben soziale Träger und Verbände, Einzelkämpfer und auch der*die ein oder andere Politiker*in die kostenlose Schulverpflegung in Potsdam gefordert. Doch nichts geschah.
Auch Bemühungen zur Vereinfachung der Umsetzung der Bildungs- und Teilhabeleistungen als niedrigschwelliges Angebot für alle Familien im Leistungsbezug, um unbürokratischer an ein kostenloses Mittagessen für die Kinder zu kommen, wurden bisher nicht ernst genommen. Schon im Februar 2021 gab es einen Beschlussvorschlag von den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE mit dem Ziel eine Bildungskarte für Potsdamer Kinder zu beschließen. Dies wurde von Seiten der Stadtverwaltung nicht weiterverfolgt.
Die Folge sind hungrige Kinder und Jugendliche in der reichen Stadt Potsdam.
Die Verwaltung der Landeshauptstadt spielt seit Jahren den Ball an die betroffenen Familien zurück, indem sie auf die Beantragung der Bildungs- und Teilhabeleistungen, wenn man dann als Familie im Leistungsbezug ist, verweist. Ja, das ist richtig. Den Familien steht es zu, für ihre Kinder ein kostenfreies Mittagessen über die Bildungs- und Teilhabeleistungen zu beantragen und in Anspruch zu nehmen. Aber viele Familien warten oftmals bis zu 6 Monaten auf die bewilligten Bescheide. In dieser Zeit fordert der Caterer aber die Vorleistung durch die Familien für das Mittagessen. Doch welche Familie kann für 20 Mittagessen x 6€ pro Monat – das sind 120€ - in Vorleistung gehen, wenn man zu den Familien gehört, die schon auf Transferleistungen angewiesen sind? Welche Familie wird diese Ersparnisse haben?
Sollte dann wirklich nach mehreren Monaten der Bearbeitungszeit der Bescheid bewilligt sein, muss bereits nach den bewilligten 6 Monaten wieder ein neuer Antrag gestellt werden. Dieser wird dann erneut wieder mehrere Monate Bearbeitungszeit in Potsdam beanspruchen.
Welche Familie kann das alles leisten und vorfinanzieren – selbst wenn sie für ihre Kinder das Essen wollen und darum, wissen, wie wichtig es für ihre Kinder ist!
Auch den Sozialarbeiter*innen in den Beratungsstellen fällt es zusehends schwerer, die Kinder und Jugendlichen für ein kostenfreies Mittagessen anzumelden, da deren Familien immer in diese beschriebene finanzielle Vorleistung gehen müssen. Und sollte dann diese Hürde genommen sein – hier braucht es zudem für viele Familien noch mehr Unterstützung durch Sozialarbeiter*innen, auch aufgrund von sprachlichen Hürden und Verständnisschwierigkeiten – muss lange auf die Rückerstattung gewartet werden bzw. diese seitens der Familien vom Caterer zurückgefordert werden. Das ist nicht mehr vertretbar! Der Staat will einerseits durch die Bereitstellung von Leistungen zur Bildung und Teilhabe, dass (so viel wie möglich) Kinder an einer Essensversorgung in den von ihnen besuchten Bildungseinrichtungen teilnehmen können (um Gesundheit zu stärken, Bildung zu fördern, Armut zu lindern). Andererseits sind aber die Familien mit der Beantragung beim Caterer, beim Träger und mit der Beantragung beim Sozialamt für die Kostenübernahme auf Grund der Hochschwelligkeit komplett überfordert. Letztlich müssen sie stets in Vorleistung gehen. Aber wovon, wenn sie über keine finanziellen Ressourcen verfügen?
Zudem zeichnet es sich durch die alltäglichen Preissteigerungen ab, dass immer mehr Eltern mit einem Arbeitseinkommen, auch im den Doppelverdiensthaushalten, ihre Kinder vom Mittagessen abmelden. Denn wer kann tagtäglich für seine Kinder ein Mittagessen zahlen? Das können nur noch Familien mit hohen Arbeitslöhnen.
Aber Schulessen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und die Kinder und Jugendlichen benötigen dringend Mittagessen, – denn ESSEN ist nicht nur Grundversorgung, Essen ist BILDUNG. Zudem vermögen Kindern und Jugendlichen, die Hunger haben, sich nicht auf den Unterrichtsstoff und –inhalt zu konzentrieren.
Auch die Einführung z. B. einer niedrigschwelligen Bildungskarte oder eines anderen Instrumentes für einen schnellen und unbürokratischen Abruf der Leistungen für BuT in Potsdam hätte schon lange die Familien, die wenig Geld haben, unterstützt.
Die Verpflegung in den Bildungseinrichtungen (KITA/Schule) ist der wichtigste ernährungspolitische Gestaltungsort und zentraler Bestandteil kommunaler und landesweiter Ernährungs-, Bildungs- und Armutsstrategien. Zudem wäre von staatlicher Seite mit der Einführung der kostenfreien KITA- und Schulverpflegung sichergestellt, dass trotz Inflation und enormer Preissteigerungen kein Kind, das eine Bildungsinstitution besucht, ohne Essen ist und hungern muss.
Forderung
Wir fordern daher den Oberbürgermeister und die Stadtverordneten auf, unverzüglich und entschieden die Einführung eines kostenfreien und gesunden Mittagessens zu veranlassen! Wir fordern dazu auf, hiermit sofort mit den Schulen im Potsdamer Stadtteil Am Schlaatz zu starten, an denen die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen Transferleistungen erhalten.
Mittelfristig müssen alle Schüler*innen an den Potsdamer Schulen mit einem kostenfreien Mittagessen versorgt werden. Damit werden einerseits die vielen Kinder und Jugendlichen und deren Familien unterstützt, die von den hohen Lebensmittel- und Energiepreisen finanziell betroffen sind und die auf Grund der gestiegenen Kosten gezwungen sind, ihre Kinder vom Mittagessen in den Bildungseinrichtungen abzumelden. Andererseits wäre die Möglichkeit der gemeinsamen Teilnahme an der Mittagsversorgung, unabhängig vom finanziellen Hintergrund der Familiensituation, ein wichtiger Schritt zur Teilhabe und Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen.
Wir fordern den Oberbürgermeister und die Stadtverordneten auf, eine Bildungskarte oder vergleichbares Instrument einzuführen, um das Abrufen der Bildungs- und Teilhabeleistungen für die Kinder und Jugendlichen für die Familien zu vereinfachen, bis die Kindergrundsicherung greift.